💶 Wenn Hilfe zur Einnahmequelle wird – Die dunkle Seite des „Persönlichen Budgets“

Immer mehr Hinweise und interne Berichte zeichnen ein alarmierendes Bild: Das „Persönliche Budget“, ursprünglich als Instrument zur Stärkung der Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung geschaffen, wird zunehmend zum Schlupfloch für systematischen Missbrauch. Dabei geht es nicht um Einzelfälle von Fehlverwendung, sondern um ein wiederkehrendes Muster, das in Gesprächen mit Pflegekräften, Sachbearbeitern und Insider:innen immer klarer zutage tritt.


Wenn das Helfer:innen-Netzwerk nur auf dem Papier existiert

Die Grundidee des Persönlichen Budgets ist bestechend: Menschen mit Behinderung sollen selbstbestimmt leben und dafür finanzielle Mittel erhalten, um sich individuell Hilfe zu organisieren. Doch was passiert, wenn diese Hilfe nie stattfindet?

In mehreren dokumentierten Fällen werden Freund:innen, Partner:innen oder Verwandte gebeten, formell als Assistenzpersonen aufzutreten. Auf dem Papier leisten sie stundenweise Hilfstätigkeiten, etwa bei der Körperpflege, beim Einkaufen oder bei Alltagswegen. Tatsächlich jedoch finden diese Leistungen gar nicht oder nur in Bruchteilen statt. Die unterschriebenen Leistungsnachweise, die zur Abrechnung beim Amt eingereicht werden, basieren auf einer stillschweigenden Übereinkunft: Geld gegen Unterschrift.


Drei Fälle, die nachdenklich machen

Ein Fall aus der Südsteiermark zeigt die Problematik besonders deutlich: Eine Frau mit anerkannter Gehbehinderung ließ über ein Jahr hinweg ihre Schwester als Assistentin abrechnen. Monatlich flossen über 1.700 Euro – für angebliche Einkäufe, Begleitungen und Hilfestellungen im Haushalt. Eine zufällige Kontrolle offenbarte, dass die Schwester im Ausland lebte und in dieser Zeit nicht ein einziges Mal physisch anwesend war.

Ein weiteres Beispiel betrifft einen jungen Mann aus Graz, der über das Persönliche Budget fünf verschiedene Freunde als Assistenten gemeldet hatte. Alle fünf unterschrieben im Wechsel Stundenzettel, erhielten dafür je einen kleinen Anteil – ohne je tatsächlich Assistenz zu leisten. Die Beträge summierten sich auf über 2.500 Euro pro Monat.

Besonders drastisch ist ein aktueller Fall, bei dem sich ein Mann absichtlich eine Behinderung zufügte, um Zugang zum Persönlichen Budget zu erhalten. Laut interner Bestätigung eines Sozialamts schnitt sich der Mann gezielt einen Daumen ab, um später als dauerhaft hilfsbedürftig eingestuft zu werden. Der Fall ist aktuell Gegenstand eines strafrechtlichen Verfahrens, wirft aber grundlegende Fragen zur strukturellen Anfälligkeit des Systems auf.


Zwischen Grauzone und Betrug: Wo Kontrolle endet

Offiziell unterliegt das Persönliche Budget gewissen Nachweispflichten. Doch diese beruhen in hohem Maße auf Vertrauen. Die Behörden prüfen nicht flächendeckend, ob jede geleistete Stunde Assistenz auch tatsächlich erbracht wurde. Die Dokumentation erfolgt oft durch einfach unterschriebene Stundenzettel, die kaum überprüfbar sind.

Ein Sozialsystem, das auf Vertrauen aufbaut, kann bei Missbrauch rasch ins Wanken geraten. Die Praxis zeigt: Gerade dort, wo Betroffene in der Lage sind, selbst Personen zu benennen und zu bezahlen, entstehen immer wieder Konstellationen, in denen das System bewusst ausgenutzt wird. Der Druck, diese Fälle zu melden, ist gering. Wer will schon gegen Verwandte oder Nachbarn aussagen?


Warum diese Masche so schwer aufzudecken ist

Die Betroffenen sind zumeist glaubwürdige Personen, sie leben oft seit Jahren mit einer anerkannten Behinderung, sind sozial eingebunden und als Leistungsempfänger:innen registriert. Die Hilfe erscheint auf dem Papier plausibel. Die eingeschalteten Freund:innen oder Familienmitglieder haben wenig zu befürchten, solange niemand nachfragt.

Hinzu kommt: Viele übernehmen die Unterschriften aus Gefälligkeit, manche auch gegen eine kleine Beteiligung. Der Schaden für die öffentliche Hand ist jedoch enorm. Monatlich können so – je nach Pflegebedarf – zwischen 1.000 und über 3.000 Euro an die angeblichen Helfer:innen fließen. Im Jahr ergibt das für einen einzigen Missbrauchsfall bis zu 36.000 Euro.


Wenn Unterstützung zum Geschäftsmodell wird

Ein weiterer Aspekt, der bislang kaum diskutiert wird: Die Höhe des Persönlichen Budgets steht in manchen Fällen in keinem Verhältnis zur tatsächlichen Hilfeleistung. Besonders bei selbst verwalteten Budgets fehlt häufig eine realistische Einschätzung, welche Tätigkeiten wie oft nötig sind. Wenn rund um die Uhr Assistenz beantragt wird – und diese nie oder nur bruchstückhaft erfolgt – entstehen nicht nur finanzielle Schäden, sondern auch eine systematische Ungleichbehandlung gegenüber jenen, die das Budget tatsächlich korrekt verwenden.


Keine Generalverdächtigung, aber mehr Transparenz

Es geht nicht darum, Menschen mit Behinderung unter Generalverdacht zu stellen. Die große Mehrheit nutzt das Persönliche Budget verantwortungsvoll. Doch ein realistischer Blick auf die Missbrauchsanfälligkeit des Systems ist notwendig.

Statt auf komplette Eigenverantwortung zu setzen, wären stichprobenartige Nachprüfungen, anonyme Meldemöglichkeiten und klarere Kriterien für die Anerkennung von Assistenzpersonen Schritte in Richtung Fairness. Auch eine Anpassung der Höhe des Budgets auf realistische Bedarfseinschätzungen wäre sinnvoll – nicht zuletzt, um das Vertrauen in das System zu erhalten.

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