Die stille Macht der Abhängigkeit: Wie wirtschaftliche Abhängigkeit Gewaltschutzmaßnahmen in Familien unterwandert
Häusliche Gewalt ist kein Randphänomen – und doch bleiben viele Betroffene in gewaltvollen Beziehungen, obwohl sie theoretisch Zugang zu Schutzangeboten haben. Einer der meist unterschätzten Gründe dafür ist die wirtschaftliche Abhängigkeit vom Täter oder der Täterin. In Österreich und Deutschland zeigt sich in Studien immer wieder, dass ein beträchtlicher Teil der von Gewalt betroffenen Personen – vor allem Frauen – ökonomisch auf ihren Partner angewiesen ist. Diese Abhängigkeit reicht von fehlendem Zugang zu eigenem Einkommen über Sorgearbeit bis hin zu Kontrollmechanismen wie dem Einzug persönlicher Dokumente oder der Manipulation von Konten.
Was in der Theorie durch Frauenhäuser, Gewaltschutzgesetze und einstweilige Verfügungen abgefedert werden sollte, verliert in der Praxis an Wirkung, wenn Betroffene sich die Flucht schlicht nicht leisten können. Die Konsequenz: Schutzmaßnahmen werden oft gar nicht erst in Anspruch genommen. Hier offenbart sich eine tieferliegende Lücke im System. Denn viele Unterstützungsangebote setzen voraus, dass Betroffene eigenständig aktiv werden, Termine wahrnehmen, sich beraten lassen – all das ist jedoch für jemanden ohne Kinderbetreuung, ohne Einkommen und mit Angst vor Repressalien kaum zu bewältigen.
Ein besonders brisanter Aspekt: In Österreich wurde das Thema wirtschaftlicher Gewaltschutz erst 2023 durch Pilotprojekte verstärkt thematisiert, während Deutschland erst langsam mit flächendeckenden Reformüberlegungen beginnt. Ein flächendeckendes staatliches Sicherheitsnetz, das speziell auf wirtschaftliche Gewalt und Abhängigkeit reagiert, fehlt bisher weitgehend. Editorials zu diesem Thema könnten die Diskussion neu anstoßen – jenseits der bekannten Narrative.
Zusätzlich bleibt ein Problemfeld weitgehend unbeachtet: die ökonomische Erpressung im Scheidungs- oder Trennungsprozess. Viele Täter setzen finanzielle Macht gezielt ein, um Betroffene durch Unterhaltsstreitigkeiten, verzögerte Zahlungen oder unklare Vermögensverhältnisse systematisch unter Druck zu setzen. Auch hier fehlt es an rechtlichen Instrumenten, um Betroffene effektiv abzusichern und Täter zur Verantwortung zu ziehen.
Ein weiterer Aspekt betrifft die Arbeitswelt: Arbeitgeber und Kolleg*innen erkennen die Problematik oft nicht oder reagieren nicht sensibel. Dabei könnten gezielte Schulungsprogramme und innerbetriebliche Unterstützungsangebote Betroffenen eine erste Anlaufstelle bieten. Der Arbeitsplatz als möglicher Schutzraum – das wäre ein bislang kaum ausgeschöpftes Potenzial im Kampf gegen familiäre Gewalt.
Männliche Opfer im Schatten: Warum der Gewaltschutz Männer oft vergisst
Wenn von häuslicher Gewalt die Rede ist, dominiert in der öffentlichen Wahrnehmung das Bild der weiblichen Opfer. Diese Perspektive ist keineswegs unbegründet – statistisch gesehen sind Frauen deutlich häufiger betroffen. Doch es gibt auch eine unsichtbare Gruppe: Männer, die Gewalt durch Partnerinnen oder männliche Angehörige erfahren, stoßen noch immer auf strukturelle Ignoranz und gesellschaftliche Scham. Ihre Geschichten werden selten erzählt.
Dabei zeigen Untersuchungen in Österreich und Deutschland, dass bis zu 20 Prozent der Opfer häuslicher Gewalt männlich sind – Dunkelziffern nicht eingerechnet. Männliche Opfer zögern häufiger, Hilfe zu suchen. Sie fürchten Spott, Zweifel an ihrer Männlichkeit oder sogar behördliche Konsequenzen, wenn sie sich offenbaren. Beratungsstellen sind oft auf Frauen spezialisiert, Männerhäuser existieren nur vereinzelt und mit begrenzten Kapazitäten.
Zudem mangelt es an gezielten Schulungen in Polizei und Justiz, wie mit Gewalt gegen Männer sensibel umzugehen ist. Viele Männer berichten, dass ihre Anzeigen nicht ernst genommen oder sogar ins Lächerliche gezogen wurden. Ein Mann, der mit einem aufgeschlagenen Auge zur Polizei geht, trifft zu oft auf Unverständnis.
Auch im medizinischen Bereich fehlt oft die Sensibilität. Männliche Gewaltopfer stoßen bei Ärztinnen und Therapeutinnen auf stereotype Vorstellungen, was dazu führt, dass Verletzungen bagatellisiert oder psychische Belastungen übersehen werden. Die Folge: Viele Männer leiden im Stillen weiter.
Ein zusätzlicher Punkt betrifft die Medienberichterstattung. Die Darstellung männlicher Gewaltopfer ist selten und oft klischeebehaftet – entweder als kuriose Ausnahme oder als potenzielle Täter. Ein gesellschaftlicher Diskurs, der alle Geschlechter einschließt, steht noch aus. Editorials können dazu beitragen, diese Lücke zu füllen und die Debatte auf eine neue Ebene zu heben.
Familiengerichte als Schutz- oder Risikozone? Wenn Sorgerechtsentscheidungen Gewalt verharmlosen
Gewaltschutz endet nicht an der Haustür – er muss auch in den Gerichtssälen greifen. Doch genau hier tun sich gefährliche Lücken auf. Familiengerichte in Österreich und Deutschland stehen immer wieder in der Kritik, dokumentierte Gewaltvorfälle nicht ausreichend zu berücksichtigen, wenn es um Sorgerechts- oder Umgangsregelungen geht. Das Ergebnis: Gewalttätige Elternteile erhalten teils unbeschränkten Kontakt zu ihren Kindern – mit dramatischen Folgen.
Ein prominentes Beispiel: In mehreren Gerichtsentscheidungen wurde argumentiert, dass der Kontakt zum anderen Elternteil „dem Kindeswohl“ diene – selbst wenn aktenkundige Gewalttaten oder Schutzanordnungen gegen den Elternteil vorlagen. Dieser juristische Balanceakt zwischen Elternrechten und Kinderschutz wird oft zu Lasten der Sicherheit ausgetragen. Opfer berichten von psychischem Druck, erzwungener Kommunikation mit dem Täter oder sogar Zwangsbegleitungen bei Übergaben.
Auch Richter*innen stehen unter Druck: Sie sollen innerhalb kurzer Zeit komplexe Familiendynamiken beurteilen, haben aber selten psychosoziale Expertise zur Hand. Zudem ist das Narrativ der „elterlichen Versöhnung im Sinne des Kindes“ tief in der Justizkultur verankert – ein Ideal, das in Gewaltfällen realitätsfremd ist.
Ein weiteres strukturelles Problem: Gutachten von Sachverständigen, die über den weiteren Umgang entscheiden, basieren nicht selten auf veralteten Methoden oder ignorieren traumapsychologische Erkenntnisse. In vielen Fällen fehlt eine interdisziplinäre Perspektive, die das Kind und die betroffene Elternperson wirklich schützt.
Zudem fehlt es an verbindlichen Richtlinien, wie Gerichte mit Gewaltkontexten umzugehen haben. Während in manchen Bundesländern Modelle für Gewaltschutzgruppen existieren, bleibt das Verfahren andernorts willkürlich. Ein Editorial, das diese Unterschiede beleuchtet, könnte die Forderung nach einem bundeseinheitlichen Standard stärken.
Kulturelle Codes und Schweigekulturen: Wenn Gewalt in migrantischen Familien tabuisiert wird
Häusliche Gewalt ist kein Phänomen einer bestimmten Herkunft, doch kulturelle Normen und familiäre Strukturen beeinflussen maßgeblich, ob und wie darüber gesprochen wird. In migrantischen Familien wirken häufig traditionelle Rollenmuster, Schamgefühle und kollektive Loyalitätsmechanismen, die das Offenlegen von Gewalt besonders erschweren.
Insbesondere in patriarchal geprägten Gesellschaften wird familiäre Gewalt oft als interne Angelegenheit betrachtet. Das Aufsuchen staatlicher Hilfe gilt als „Verrat“ oder „Ehrverlust“. Frauen und Mädchen, die sich an Behörden wenden, riskieren soziale Ausgrenzung, Isolation oder sogar Gewalt durch die eigene Familie. Auch Sprachbarrieren und mangelnde Kenntnis über Rechtsansprüche erschweren den Zugang zu Hilfsangeboten massiv.
Österreich und Deutschland reagieren darauf mit kultursensiblen Ansätzen – etwa durch interkulturelle Beratungsteams. Doch diese sind oft unterfinanziert und zu wenig vernetzt mit Polizei, Schulen und Justiz. Ein gravierendes Problem: Viele Fachkräfte scheuen sich aus Angst vor „Kulturalisierung“ davor, Gewalt klar zu benennen, wenn sie in migrantischen Kontexten auftritt. Die Folge ist ein lähmendes Dilemma zwischen Antirassismus und konsequentem Opferschutz.
Zudem fehlt es an gezielten Informationskampagnen, die in verschiedenen Muttersprachen über Rechte, Hilfsangebote und Notrufstellen aufklären. Viele Migrant*innen wissen schlicht nicht, an wen sie sich wenden können. In bestimmten Communities wäre die Zusammenarbeit mit religiösen oder kulturellen Autoritäten ein möglicher Weg, um Vertrauen aufzubauen – wird aber bisher kaum genutzt.
Ein weiteres wichtiges Thema: Kinder aus gewaltbelasteten migrantischen Haushalten werden häufig nicht als eigenständige Betroffene gesehen, sondern als „Mitbetroffene“ ihrer Mütter. Dabei haben sie eigene Schutzbedürfnisse – und brauchen auch eigene Anlaufstellen. Ein Editorial, das diese Perspektive einnimmt, kann bestehende Lücken sichtbar machen.
Digitale Gewalt als neue Bedrohung im Familienalltag: Stalking, Kontrolle und Manipulation durch Technologie
Während Gewaltschutzgesetze in Österreich und Deutschland zunehmend auf physische Gewalt fokussiert sind, verlagert sich die Realität längst ins Digitale. Digitale Gewaltformen wie Cyberstalking, Kontrolle über Smart Devices, Spionage-Apps oder manipulative Kommunikation über soziale Netzwerke haben sich in vielen Familien als neue Form der Machtausübung etabliert.
Täter nutzen Smartphones, GPS-Tracker, Babyphones mit Kamera oder geteilte Accounts, um das Leben ihrer Partner oder Ex-Partner minutiös zu überwachen. In Trennungsphasen wird diese Überwachung häufig noch intensiver – begleitet von Drohungen, Bloßstellungen oder digitaler Erpressung. Die psychische Belastung ist enorm, besonders wenn auch Kinder mit digitalen Geräten ausgerüstet sind und so ungewollt zum Überwachungskanal werden.
Ein gravierendes Problem: Digitale Gewalt wird oft nicht ernst genommen. Polizei und Justiz fehlt es an Know-how und rechtlicher Handhabe. Zwar gibt es erste Schulungen, aber viele Straftaten bewegen sich in rechtlichen Grauzonen. Auch die Beweisführung ist kompliziert – Screenshots gelten oft nicht als Beweismittel, und Täter agieren geschickt anonymisiert.
Zusätzlich fehlen Schutztechnologien für Betroffene: Es gibt kaum staatlich geförderte Apps, die Hilfe bieten oder Spuren sichern. Dabei könnte Technologie auch ein Teil der Lösung sein – etwa durch sichere Kommunikationskanäle, digitale Notfallknöpfe oder KI-gestützte Warnsysteme, die ungewollte Überwachung erkennen.
Ein weiterer bislang wenig diskutierter Aspekt ist die Rolle von Plattformen und Anbietern: Soziale Netzwerke, Smartphone-Hersteller und App-Stores tragen Verantwortung, Missbrauch zu erkennen und präventiv einzuschreiten – doch entsprechende Maßnahmen fehlen oft oder greifen zu spät. Ein kritisches Editorial kann hier Druck aufbauen und Wege aus der digitalen Hilflosigkeit aufzeigen.